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Hirschlein ging im Wald spazieren


Das Kinder- und Tier-Lied "Hirschlein ging im Wald spazieren" entstand zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Den Text schrieb Friedrich de la Motte Fouqué und veröffentlichte ihn 1808 als Liedeinlage in seinem Roman "Alwin". Seit den 1830er Jahren fand das Lied Eingang in pädagogische Liederbücher, wobei in der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedenste Melodien dafür Verwendung fanden. Die Vertonung des Textes von Peter Cornelius (1859) spielte im 19. Jahrhundert keine nennenswerte Rolle. Sie wurde erst 1898 veröffentlicht, bestimmte dann aber weitgehend die Rezeption des Liedes im 20. Jahrhundert.

I. Das Gedicht "Hirschlein ging im Wald spatzieren" schrieb der romantische Schriftsteller Friedrich de la Motte Fouqué (1777–1843) als Liedeinlage für seinen 1808 veröffentlichten Roman "Alwin". Der Protagonist Alwin wird dort als naturverbundener und melancholischer Einsiedler beschrieben, der durch abendliche Waldspaziergänge im Spätherbst und die Lektüre von alten Waidmannsbüchern zu Reimen und Weisen inspiriert wird (2. Band, 2. Teil, 7. Kapitel). Als sich Alwin im Winter in sein Zimmer zurückzieht und aus dem Fenster blickend einen angeschossenen Hirsch beobachtet, singt er zu eigener Zitherbegleitung das Lied "Hirschlein ging im Wald spatzieren" (Edition A). Fouqués Roman, den er 1808 unter dem Pseudonym Pellegrin publizierte, markiert den Beginn einer erfolgreichen Schaffensperiode des seinerzeit bekannten Schriftstellers, die maßgeblich von Jean Pauls enthusiastischer "Alwin"-Rezension initiiert wurde. Heute ist dieser Roman jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten.

II. Der sechsstrophige Liedtext berichtet in romantisch-volkstümlicher Erzählmanier von einem Hirschlein, dessen heiteres Treiben durch einen Jagdunfall ein jähes Ende findet. Die ersten beiden Strophen des Liedes zeichnen das Bild eines freudig spielenden Tieres, das bereits mit dem ersten Zwitschern der Vögel frühmorgendliches Vergnügen beim Springen über Gräben und Hecken erfährt, doch in der dritten Strophe bricht Unheil in Person des Jägers über die friedvolle Waldidylle herein. Aus dem Hinterhalt schießend trifft der Jäger das Hirschlein, welches verwundet davoneilt und Schutz bei seinen Artgenossen sucht. Von diesen im Stich gelassen findet es keine Kraft mehr und legt sich zu Vogelgezwitscher weinend in den Klee.

III. Mit dem Erfolg von Fouqués "Alwin"-Roman erreichte auch sein "Hirschlein"-Text zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein großes Publikum und fand seit den 1830er Jahren Eingang in Liederbücher wie "Die Lieder der Jugend. Für Schule und Haus" (Bern 1835), zunächst jedoch ohne ausdrückliche Melodieangaben. 1859 vertonte der Dichter und Komponist Peter Cornelius (1824–1874) das "Hirschlein"-Lied für die Gattin des mit ihm befreundeten Schriftstellers Emil Kuh. Auf dem Hintergrund dieser Konstellation und der Tatsache, dass Cornelius damals andere Gedichte von Emil Kuh vertonte, wurde auch der Hirschlein-Text häufig diesem Autor zugewiesen – eine fälschliche Zuschreibung, welche die Cornelius-Literatur bis heute begleitet. Die Vertonung von Cornelius (Edition B) berücksichtigte lediglich drei der Liedstrophen. Sie blieb zunächst unpubliziert und entfaltete somit einstweilen keine öffentliche Wirkung. Zu jener Zeit wurden im Allgemeinen verschiedene andere Melodien für den Liedtext verwendet und in pädagogischen Liederbüchern der 1860er Jahre veröffentlicht (Edition C). Dabei verzichteten die Vertonungen in der Regel auf die 2., 4. und 5. Strophe des ursprünglichen Textes von Fouqué. 1878 publizierte auch der "Volkslied"-Forscher Ludwig Erk den "Hirschlein"-Text in einem Schulliederbuch, und zwar mit einer Melodie des Komponisten Karl Gläser (1784–1829). Gläser hatte die Weise 1822 ursprünglich für die Verse "Die Vöglein im Frühlinge" veröffentlicht. Erks Melodieadaption (Edition D) sollte in den folgenden Jahrzehnten nun häufiger Verwendung für den "Hirschlein"-Text finden. Kurz vor der Jahrhundertwende erschien 1898 schließlich die Vertonung von Cornelius als Notendruck (Edition B) und fand damals auch jenseits des Konzertpodiums Resonanz, u. a. im Repertoire der frühen Stummfilmbegleitung (Jung/Loiperdinger 2005).

IV. Bis zum Ende des Kaiserreichs hielt sich das Hirschlein-Lied in schulischen Liederbüchern. In den 1920er Jahren findet sich dort auch vereinzelt die Textversion "Rehlein ging im Wald spazieren" mit einem versöhnlichen Happy-End: Das besungene Tierchen wird in einer zusätzlichen Strophe wieder gesund (Edition E). Im Kontext der grundlegenden Neuorientierung der Musikpädagogik (Kestenberg-Reform) verschwindet das Lied jedoch allmählich aus dem schulischen und häuslichen Liedrepertoire. Einzig die Vertonung von Peter Cornelius findet im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts noch nennenswerte Resonanz, als Kunstlied wie auf Tonträger.

RAPHAEL POLLAK
ECKHARD JOHN
(März 2012)



Editionen und Referenzwerke
  • Günter Wagner: Peter Cornelius. Verzeichnis seiner musikalischen und literarischen Werke. Tutzing 1986 (Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 13), S. 150f.

Weiterführende Literatur
  • Uli Jung und Martin Loiperdinger (Hrsg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Band 1: Kaiserreich 1895–1918. Stuttgart 2005 (zur Verwendung des Liedes im Stummfilm S. 337).
  • Christian F. Lorenz.: Fluchtwege aus dem Weltlabyrinth. Das erzählerische Werk Friedrich de la Motte Fouqués. In: Friedrich de la Motte Fouqué: Sämtliche Romane und Novellenbücher. Hrsg. v. Wolfgang Möhring. Band 1: Alwin. Hildesheim 1990, S. 1*–55*.
  • Karlheinz Pricken: Peter Cornelius als Dichter und Musiker in seinem Liedschaffen. Eine Stiluntersuchung. Diss. Köln 1951 (zum Hirschlein-Lied S. 95–99, sowie 42, 81, 109 und 114).
  • Carl Maria Cornelius: Peter Cornelius. Der Wort- und Tondichter. Band 1: Von Mainz bis Wien. Regensburg 1925, S. 291.
  • Kurt Roger: Peter Cornelius als Liedkomponist. Wien 1921 (zum Hirschlein-Lied S. 11–14, sowie S. 29 und 108).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: gelegentlich in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: sehr selten auf Tonträgern
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Raphael Pollak, Eckhard John: Hirschlein ging im Wald spazieren (2012). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/hirschlein_ging_im_wald_spazieren/>.


© Deutsches Volksliedarchiv

last modified 10.10.2012 12:32
 

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