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Heut soll das große Flachsernten sein


"Heut soll das große Flachsernten sein" ist die deutsche Übersetzung des schwedischen Tanzliedes "Nu ska vi skörda linet idag". Sie ist Ende der 1920er Jahre entstanden und fand in der Zeit des Nationalsozialismus starke Verbreitung. Das Lied verknüpft die handwerkliche Tätigkeit der Leinenherstellung mit volkstümlichem Tanz.

I. Das schwedische Lied "Nu ska vi skörda linet idag" wurde erstmals 1864 in der Sammlung "Kring julgranen" (Um den Weihnachtsbaum herum) veröffentlicht. Dort erschien es mit Klavierbegleitung, vom Text allerdings nur der erste Vers. Die für die Liedrezeption entscheidende Publikation war das 1905 von Otto Hellgren herausgegebene Buch "Sånglekar från Nääs" (Spiellieder aus Nääs), in dem das Lied mit ausführlichen Tanz- und Spielanweisungen verknüpft ist (Edition A). Geprägt durch die pädagogischen Intentionen des Lehrerseminars in Nääs, wo viele Spiellieder für Kinder aufbereitet wurden, fand das Lied in Schweden vor allem durch Schulliederbücher weite Verbreitung. Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung sind dagegen erst seit den 1920er Jahren bekannt. Meist stammen sie aus Südschweden und bieten teilweise Text- und Melodievarianten.

II. Ende der zwanziger Jahre entstand auch die deutsche Version von "Nu ska vi skörda linet idag". Auch hierbei stand die musikpädagogische Verwendung des Liedes im Vordergrund: der früheste bekannte Druck von "Heut soll das große Flachsernten sein" ist das 1927 in Lahr (Baden) veröffentlichte Schulbuch "Volksliederbuch für die deutsche Jugend" (Edition B), das in den folgenden Jahren beständig nachgedruckt wurde. Vereinzelt wurde das Flachsernten-Lied damals auch im Umfeld der Jugendbewegung rezipiert. Es findet sich etwa in der 1928 publizierten 9. Auflage des Liederbuches "Der Spielmann" (Edition C), welches 1930 ebenfalls in einer "Schulausgabe" erschien. Die fünf Strophen des Liedes beziehen sich auf die handwerkliche Verarbeitung des Flachses. Zuerst wird der Flachs geerntet, gehechelt und gesponnen. Schließlich wird das Rohprodukt zu Leinen gewoben. Der Refrain bringt die Absicht der Liedsänger zum Ausdruck, sich Hemd und Rock nähen zu wollen und nach getaner Arbeit "froh zum Tanze" zu schwingen. Die Melodie ist kontrastierend angelegt: Die beiden Stollen bestehen aus Dreiklangsbrechungen in der Tonika und in der Dominante, der Abgesang aus diatonischen Tonleiterausschnitten.

III. Größere Verbreitung erfuhr das Lied in der Zeit des NS-Staates. Bezeichnend dafür ist die 1936 veröffentlichte Sammlung "Volkstänze, Lieder, Spielmusik. Für Dorfabend und Fest", die Gertrud Belzner für den "Bund Deutscher Mädel" (BDM) herausgegeben hat (Edition D). Hier war das Ziel klar gesteckt: Das Heft sollte dazu beitragen, "durch verantwortungsvolle und zielbewußte Volkstumsarbeit" das "echte und wertvolle Volksgut wieder Allgemeinbesitz der neuen Dorfgemeinschaft" werden zu lassen. Das Lied von der Flachsverarbeitung ließ sich bestens mit der nazistischen Arbeits- und Feierideologie verknüpfen. Sein Ausgangspunkt ist die handwerkliche Arbeit, die zum Gemeinschaftserlebnis "Tanz" führen soll. Die dem Lied beigegebene Illustration mit der Beischrift "Erntetanz" unterstreicht dies: Gezeigt werden tanzende Paare in "deutscher Tracht", die nach Vorstellung der Nazis die deutsche Landbevölkerung mustergültig repräsentieren. Bemerkenswert ist zugleich, dass die im Lied beschriebene alte Form der Flachsverarbeitung zwischen 1933 und 1945 fast keine Rolle mehr spielte, weil schon längst industrielle Methoden zur Verfügung standen. Mit der Hand wurde Flachs damals fast nur noch in der Brauchtumspflege verarbeitet.

IV. Vor allem in den Mädchen- und Frauenorganisationen des "Dritten Reiches" wurde das Lied propagiert. Man findet es im Buch "Lieder der Arbeitsmaiden", das 1938 in Potsdam vom "Arbeitsdienst für die weibliche Jugend" herausgegeben wurde, ebenso wie im "Singebuch für Frauenchor". Letzteres war wiederum speziell für "die Frau" gedacht, die nach Ansicht des herausgebenden "Kulturamtes der Reichsjugendführung" den "Jahreskreis dank ihrer Bestimmung besonders tief erlebt". Neben verschiedenen Bearbeitungen nazistischer Musikfunktionäre hat auch der Komponist Armin Knab (1881–1951) zu diesem Lied 1940 einen Satz für Singstimme, Melodieinstrument und zwei Violinen geschrieben (Edition E).

V. Nach dem Zusammenbruch der Diktatur und dem Kriegsende wurde das Lied weiterhin in Gebrauchs- und Schulliederbüchern abgedruckt, vereinzelt noch bis in die 1980er Jahre. Selbst ein Avantgarde-Komponist wie Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) hat in den ersten Nachkriegsjahren eine Neubearbeitung davon angefertigt (Edition F). Neben dem schulischen Gebrauch fand das Lied bis in die 1970er Jahre vor allem innerhalb der Sparte "volkstümlicher Musik" Verbreitung. Noch heute wird es im Internet vielfach verbreitet. Dabei sind Zuschreibungen wie "altes Spinnstubenlied aus Schweden" ebenso irreführend wie die völlige Ausblendung des nationalsozialistischen Hintergrunds.

BARBARA BOOCK und MICHAEL FISCHER
ECKHARD JOHN
(Juli 2006 / November 2007)



Quellenübersicht

  • Ungedruckte Quellen: keine Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: gelegentlich in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: kaum Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.


Ausführliche Quellendokumentation



Zitiervorschlag
Barbara Book, Michael Fischer, Eckhard John: Heut soll das große Flachsernten sein (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/heut_soll_das_grosse_flachsernten_sein/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 12.09.2012 11:58
 

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