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Gestern Abends um Neune


Vom nächtlichen Beisammensein eines jungen Paares erzählt das erotische Lied "Gestern Abends um Neue". Es stammt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sein Autor ist nicht bekannt. Die dazu überlieferte Melodie hat starke Ähnlichkeiten mit der Weise von "Die Gedanken sind frei". In den Jahrzehnten um 1800 war "Gestern Abends um Neune" vor allem durch Flugschriften verbreitet und wurde in der mündlichen Überlieferung teilweise bis in die Zeit um 1900 tradiert. Parallel dazu entwickelte sich aus diesem Lied in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das neuere (Soldaten-)Lied "Soldaten sind schön".

I. Herkunft und Entstehung des Liedes "Gestern Abends um Neune" sind nicht bekannt. Die frühesten Quellen für den Text finden sich in Flugschriften, die etwa in der Zeit zwischen 1770 und 1800 verbreitet wurden. Bei dem vermutlich frühesten Druck handelt es sich um eine Flugschrift, die neben weiteren Liebesliedern auch offen erotische Liedtexte enthielt und mit der verklausulierten Druckerangabe "Gedruckt mit dem Bengel, mein Engel" versehen ist (Edition A). Auch in den um 1800 kursierenden Flugschriften (Edition B) erschien "Gestern Abends um Neune" stets im Kontext anderer erotischer Lieder. Die Melodie des Liedes wurde erstmals in der 1807 herausgebrachten "Sammlung Deutscher Volkslieder" von Johann Gustav Büsching und Friedrich von der Hagen veröffentlicht (Edition C). Sie ist der (erst später belegbaren) Weise von "Die Gedanken sind frei" recht ähnlich, und sie wurde relativ konstant in dieser Form tradiert.

II. Im Lied "Gestern Abends um Neune" kommt die (heimliche) Liebesnacht eines jungen Paares zur Sprache. Aus der Perspektive des Mannes wird erzählt, dass er "gestern Abend" nach Sonnenuntergang ("um Neune") sein Mädchen besucht habe und es dann ganz rasch zur Sache ging: es "braucht nicht viel Reden, [sie] läßt mich gleich zu ihr liegen" (Edition A, Str. 1). Die junge Frau wird im Liedtext als aktive und fordernde Partnerin geschildert. Sie wünscht sich, dass ihr "Büberl" doch noch länger bei ihr bleiben möge (Str. 2), und gibt ihm schließlich mit auf den Weg, dass sie ihre Tür stets für ihn offen lasse, damit er – wann immer er komme – gleich in ihr Zimmer hochgehen und sich in ihr Bett legen könne (Str. 5). Unmissverständlich äußert sie in einigen Liedversionen ihre Wünsche: "Büberl, das ist mein Begehr, komm nur bald wieder zu mir her" (Edition B, Str. 5). Das Sujet des Liedes erinnert an jene ländlichen Sitten vorehelicher Paaranbahnungen mittels nächtlicher Besuche, die – je nach Region – als Kiltgang, Fensterln, Gaßl gehen, z'Stubati goh oder unter anderen Bezeichnungen bekannt sind. Es ist jedoch fraglich, ob "Gestern Abends um Neune" ursprünglich in diesem Kontext zu verorten ist. Denn im Unterschied zu vielen Kiltliedern werden in diesem Lied entsprechende Gebräuche nicht geschildert – vielmehr ist nur von der unmittelbaren Begegnung der Liebenden die Rede. Auch das fürs "Fensterln" buchstäblich bezeichnende Requisit (das Fenster) wird in diesem Lied gar nicht erwähnt. Vielmehr ist ausdrücklich eine Tür als Zugang zum Zimmer des Mädchens genannt. Insofern muss offen bleiben, ob dieses Lied tatsächlich zur Gruppe der sogenannten "Kiltlieder" zu rechnen ist.

III. Unklar ist auch, in welchem Kontext dieses Lied seinerzeit Verwendung gefunden hat. Auffällig ist jedoch, dass parallel zu der um 1800 einsetzenden (bürgerlichen) Entdeckung ländlichen Lebens und alpiner Regionen (sowie der damaligen Tiroler-Mode) auch das Lied "Gestern Abends um Neune" publizistisch in solchem Umfeld verortet wurde. In einigen damaligen Liedflugschriften war der Text etwa als "Ein Bayerisches Lied" überschrieben (Edition B) – tatsächlich lässt sich jedoch keine spezifisch bayrische Tradition für dieses Lied nachweisen, es ist damals vielmehr für verschiedenste deutschsprachige Regionen belegt. In Johannes Falks literarischer Zeitschrift "Elysium und Tartarus" wurde es 1806 wiederum explizit dem Tiroler Brauchtum des "Fensterns" zugeschrieben – doch auch dies scheint eher der Projektion des Autors geschuldet zu sein. Bislang liegen keine Quellen dazu vor, die Aufschluss darüber geben, ob "Gestern Abends um Neune" damals tatsächlich zum Liedrepertoire jener jungen Männer gehörte, die (potentielle) Akteure solcher nächtlichen Stelldicheins auf dem Lande waren, oder ob es sich bei diesem Lied eher um eine (städtische) Fantasie handelte. Neben den regionalen und funktionalen Zuschreibungen (Bayern, Tirol – Kiltlied) artikulierte sich die ländliche Verortung des Liedes zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch in der Publikation einer mundartlich geprägten Liedversion aus Thüringen (Edition C).

IV. Zur gleichen Zeit bekam das im Liedtext genannte "Dänderl" auch einen konkreten Namen: erstmals 1807 erschien die junge Frau dort als "Liesl" (s. Edition C), was in der Folge in nahezu allen späteren Liedversionen so beibehalten wurde. Spätestens um 1840 wird auch der Mann namentlich genannt, aber hierzu blieb die Überlieferung uneinheitlich: in einer Aufzeichnung hieß er beispielsweise "Michel" (Edition D), andernorts war er einfach das "Schatzel" (Edition E). Die Liedaufzeichnungen aus den 1840er Jahren zeigen zudem, dass der Liedtext in der mündlichen Überlieferung zunehmend freier variiert wurde. In einer im Südschwarzwald aufgezeichneten Version heißt es nun auch seitens des Mannes ganz explizit: "Ich küss dir bald wieder, den rosigen Mund", und gleichzeitig machte er seiner Geliebten deutlich, dass er nur samstags wiederkommen könne, denn "an andern Werktagen, da hab ich kein Zeit, und leider am Sonntag, da sahen 's die Leut." (Edition D, Str. 3 und 5).

V. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es kaum noch Hinweise auf eine Tradierung des Liedes. Ob dies ein Indiz für seine abnehmende Popularität ist oder eher die selektive Sammelpraxis damaliger Volksliedsammler spiegelt, lässt sich heute kaum noch rekonstruieren. Sicher ist jedoch, dass das Lied in einzelnen Regionen bis in die Zeit der Jahrhundertwende tradiert wurde, etwa im sächsischen Erzgebirge (Edition E) oder im Braunschweiger Raum, für den der Volkskundler Richard Andree "Gestern abends um neune" als eines der (wenigen) dort "viel gesungenen" Volkslieder aufführte (Andree 1901). Gleichzeitig entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus zentralen Motiven dieses Liebesliedes das neuere Soldatenlied "Soldaten sind schön", das – mit ähnlichem latent erotischen Einschlag – das vorangegangene "Gestern Abends um Neune" im 20. Jahrhundert ersetzte.

ECKHARD JOHN
(Mai 2015)


Zitierte Literatur
  • Richard Andree: Braunschweiger Volkskunde. [1896] Zweite vermehrte Auflage. Braunschweig 1901. (Zitat S. 483f.)


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: verschiedentlich auf Flugschriften
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Gestern Abends um Neune (2015). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/gestern_abends_um_neune>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 28.09.2016 04:15
 

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