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Es waren zwei Nachbarskinder

(Et wore zwei Nohberschkinder)

"Es waren zwei Nachbarskinder" ist ein Parodie-Schema auf die bekannte Ballade von den Königskindern. Dieser Incipit wurde für verschiedene Lieder genutzt. Als erster veröffentlichte der Schriftsteller Julius Wolff 1886 eine solche Liedversion in seinem Versepos "Lurlei". Am bekanntesten wurde das "Nachbarskinder"-Lied im Kölner Dialekt von Christian Witt, welches sich als regionales Popularlied ins Repertoire der "Kölschen Lieder" einschrieb. Eine weitere Umdichtung mit Regionalbezug, die nach dem Ersten Weltkrieg das Verhältnis zwischen Baden und Württemberg thematisierte, parodiert das "Königskinder"-Thema auf politischer Bühne.

I. Der Schriftsteller Julius Wolff (1834–1910) war ein in seiner Zeit überaus erfolgreicher Autor, der in seinen Werken gerne Themen traditioneller Sagen und Volksbücher aufgriff. Wolffs epigonaler Stil galt schon zeitgenössischen Kritikern als "Butzenscheibendichtung" (Paul Heyse). Besonders erfolgreich waren seine Versepen "Till Eulenspiegel redivivus" (1874) und "Der Rattenfänger von Hameln" (1876), denen er 1886 als weitere versepische Dichtung sein Buch "Lurlei. Eine Romanze" folgen ließ. In der damaligen Hochzeit der – von Brentano, Heine und Silcher losgetretenen – "Loreley"-Welle erlebte Wolffs "Romanze" über Jahrzehnte zahlreiche Neuauflagen. Darin enthalten ist eine Liedeinlage, die einen weiteren damals prominenten Stoff deutscher "Volkslieder" aufgriff: die Ballade "Es waren zwei Königskinder". Eine Umdichtung dieser Geschichte legte Wolff seiner Lurlei-Figur in den Mund. Diese hat an dem Sohn des benachbarten Pfalzgrafen Gefallen gefunden und stimmt das Lied von den "zwei Nachbarskindern", die "sich heimlich lieb" haben, an, nachdem sie von ihren Pflegeeltern mit diesbezüglichen Vorhaltungen konfrontiert wurde (Edition A). Lurleis Lied fungiert hier wie eine Art innerer Monolog. Dabei erkennen sich die beiden unglücklich Liebenden jedoch vor dem letzten, tödlichen Schritt gegenseitig als einander Liebende – und so wird bei Wolff aus diesem Gesang keine Ballade, sondern ein Liebeslied mit happy end. Kurz nachdem die "Lurlei"-Romanze von Julius Wollff erschienen war, wurde sein fiktives Lied der "Nachbarskinder" umgehend von Komponisten wie Emil Kraus, op. 60 (1887), Max Peters (1888) und Johannes Pache, op. 132 (1892) vertont. Krauses Vertonung fand seinerzeit in der "Neuen Zeitschrift für Musik" (1888) wohlwollende Resonanz, aber auf Dauer hat keine der genannten Vertonungen größere Verbreitung gefunden (s. Anmerkung zu Edition A).

II. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschien die kölsche Version "Et wore zwei Nohberschkinder", die der Mundartautor Christian Witt (1868–1955) in seiner Sammlung "Zilentium" (Köln 1914) veröffentlichte. Witt war ein langjähriger Aktivist des Kölner Karnevals, der u. a. 1895–1914 als bekannter Büttenredner ("Professor Säuerlich") wirkte und 1950 zum "Nestor des Kölner Karnevals" ernannt wurde. Witt schrieb seine "Nohberschkinder" ausdrücklich als rustikale Parodie auf "Es waren zwei Königskinder", wobei der Clou seiner Version darin besteht, dass das Mädchen beim langen Warten auf ein heimliches Stelldichein einschläft, der Wind die Kerze ausbläst und der Junge dadurch im Dunkeln in eine Jauchegrube fällt (Edition B). Witt regte sein Publikum ausdrücklich dazu an, seine Texte zu singen und offerierte dafür bei Bedarf musikalische Unterstützung: "wer üvver en Melodie keinen Bescheid weiß, kann räuig bei meer anfroge" (ebd.). Dass "Et wore zwei Nohberschkinder" im Kölner Milieu seinerzeit längerfristig auf dankbare Abnehmer stieß, signalisiert eine 1931 aufgezeichnete Schallplattenaufnahme mit Kölner Marktfrauen, die damals auch das Lied von den "zwei Nohberschkindern" zum Besten gaben (siehe Anmerkung zu Edition B). Bis in die jüngste Zeit ist das Lied im Repertoire der "Kölschen Parodien"zu finden.

III. Anfang der 1920er Jahre erschien eine weitere regionale Version der "Nachbarskinder", diesmal mit Bezug zu "Württemberg und Baden". Das 1921 in der Münchner Kulturzeitschrift "Jugend" veröffentlichte Gedicht entstand vor dem Hintergrund der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Diskussion über eine Vereinigung der südwestdeutschen Länder. Es ist eine der frühesten politischen Parodien auf die Geschichte von den zwei Königskindern. Dabei werden aus den beiden Adelssprösslingen – nach Abschaffung der Monarchie 1918 – "Nachbarskinder", von denen der schwäbische "Jüngling" der badischen "Maid" vorschlägt, künftig "gemeinsam durchs Leben zu wandern". Doch die umworbene Braut ist misstrauisch und äußert ihre Sorge, von dem Burschen aus "Schtuckert" lediglich "übers Ohr" gehauen und "kaltgestellt" zu werden. Mit dieser Satire auf chancenlose politische Heiratspläne kommentierte der humoristische Schriftsteller Beda Hafen (1875–1933) in der "Jugend" die damalige Debatte gleichermaßen pointiert wie treffend: "Man kann sie leider nicht trauen, / weil kein's dem anderen traut!" (Edition C). Ins Repertoire gesungener Lieder hat diese Parodie keinen Weg gefunden, doch werden die Verse als – vermeintlich anonymes – Gedicht in (kultur-)historischer Literatur bis in jüngste Zeit gelegentlich zitiert (Bausinger 2002). Sie signalisieren die politische Dimension, die mit vielen "Königskinder"-Parodien im 20. Jahrhundert einherging (vgl. Liedkommentar "Königskinder", Abs. X.).

ECKHARD JOHN
(August 2013)



Weiterführende Literatur
  • Hermann Bausinger: Die bessere Hälfte. Von Badenern und Württembergern. Stuttgart, München 2002 (Liedzitat S. 109).
  • Heribert A. Hilgers, Max-Leo Schwering: Kölsche Parodien. Köln: Greven [1984] 3. Aufl. 1991.
  • Rotraud Ehrenzeller-Favre: Loreley. Entstehung und Wandlung einer Sage. Flensburg 1948, S. 175–180 (zur "Lurlei"-Romanze von Julius Wolff).
  • A. Chr. Kalischer: Gesänge von Emil Krause. In: Neue Zeitschrift für Musik 55 (1888), Nr. 31/32 (8. August), S. 344f.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: keine Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: sehr selten in Gebrauchsliederbüchern (nur als Kölner Lied)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente:
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Es waren zwei Nachbarskinder (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/es_waren_zwei_nachbarskinder/>.


© Deutsches Volksliedarchiv

 
last modified 31.12.2013 04:42
 

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