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Drunne kummt ä Russl gfahre mit ä Rukawitza

Der Vierzeiler "Drunne kummt ä Russl gfahre" ist ein gemischtsprachiger russisch-deutscher Neckvers. In ihm findet die klischeehafte Vorstellung russlanddeutscher Siedler vom russischen Bauern ihren spöttischen Ausdruck. Seit den frühen Aufzeichnungen Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Text in verschiedenen Varianten bis in die Gegenwart belegt und weltweit in vielen russlanddeutschen Siedlungsgebieten verbreitet.

I. Eine zweistrophige Fassung des Liedes – eine Reihung von zwei Vierzeilern – wurde im Jahr 1927 von dem Germanisten und Dialektforscher Viktor Schirmunski in der russlanddeutschen Siedlung "Kolonie Landau" (Ukraine) aufgezeichnet (Edition A). Zu beiden Strophen sind mehrere Varianten bekannt, sowohl aus der Zeit der ersten Aufzeichnungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wie auch für die Gegenwart. In den 1920er Jahren wurde "Drunne kummt ä Russl gfahre" in diversen Fassungen und in so unterschiedlichen russlanddeutschen Siedlungsgebieten wie dem Umland von St. Petersburg, der Wolgaregion, der Ukraine und Transkaukasien gesungen. Aufgrund dieser damals schon weiten Verbreitung und Variantenvielfalt ist anzunehmen, dass der Text älter ist, als das um 1914 anhebende wissenschaftliche Interesse an der Dokumentation russlanddeutscher Lieder. Die älteste Quelle ist nicht eindeutig festzumachen, da in mehreren der Textbelege das Aufzeichnungsjahr nicht dokumentiert ist. Unklar bleibt bislang auch, in welchem Zeitraum das Lied entstanden ist.

II. Die anhaltende Beliebtheit und weite Verbreitung des Liedes hat ihre Ursache vermutlich darin, dass hier ein so zentrales Sujet wie die Nachbarschaft und das Zusammenleben in einem Vielvölkerstaat – konkret die mehrheitliche Haltung der Russlanddeutschen gegenüber der größten Bevölkerungsgruppe, den Russen – zur Sprache kommt. Das Spektrum der Textvarianten reicht von einer relativ neutralen Beschreibung des "Anderen", mit dem man in Kontakt tritt (das "Russl" mit seiner "Droschke", das auf den Markt fährt und Kartoffeln mitbringen soll) über arrogantes sich-abgrenzen ("Hat ä verrissnes Pelzl a: Eto ne goditsja!" [So geht’s ja nicht!]) bis zu derbem Spott ("Hot e Bindl Hai im Arsch: Eto ne goditsja! ") über die russischen Nachbarn. Das gesellschaftliche Nebeneinander mit seinen unterschiedlicher Sozialstrukturen und Wertvorstellungen und ganz allgemein unterschiedlichen kulturellen Konzepten findet hier – gerade auch im Spiel mit den Sprachen – seinen Ausdruck.

III. In weiteren Varianten wird aus der Droschke der Eigenname Troschka, und mitunter sitzt auch die "Matschka" – das Mütterchen – mit auf dem Wagen und handelt mit "Kartoschke" (Kartoffeln) oder Konfekt. Inhaltlich sind sich historische und rezente Fassungen des Liedes sehr ähnlich. Ebenso finden sich sowohl bei den frühesten wie bei den jüngsten Belegen Varianten mit ausgeprägter Zweisprachigkeit ebenso, wie solche, in denen das Makkaronische kaum in Erscheinung tritt. Bis in die 1930er Jahre wurden humoristische Lieder oder Stegreifreime wie "Drunne kummt ä Russl gfahre" in russlanddeutschen Siedlungen von der Dorfjugend auf der Gasse gesungen. Ein weiterer Aufführungskontext für Vierzeiler dieser Art waren Hochzeitsfeiern. Ein fester Bestandteil russlanddeutscher Hochzeiten waren sogenannte "Tuschliedchen", eine variable Reihung heiterer Gstanzln, die im Wechsel mit Tanzsequenzen – meist Polka, aber auch andere Tänze wie Walzer oder Dreher waren üblich – auf variable Melodien abgesungen wurden. Gegenwärtig werden solche und andere russlanddeutsche Lieder vor allem im Kontext der Pflege einer überregional definierten russlanddeutschen Identität aufgegriffen und weiter verbreitet.

IV. Sowohl die melodische und textliche Variabilität wie auch die Reihung sind charakteristisch für die Gattung der Scherzreime oder Tuschliedchen. Dieses Genre ist in der russlanddeutschen Bevölkerung in- und außerhalb Russlands äußerst populär, findet sich jedoch nur selten in gedruckten Liederbüchern. Beispiele dieser humoristischen Vierzeiler sind neben "Drunne kummt ä Russl gfahre" auch "Uns iss gut und uns iss gut, wir leben ohne Sorgen" und "Alle schöne Mäderchen tanzen mit Kosacken". Sie können mit fester oder variabler Melodie tradiert werden, man singt sie einzeln oder gereiht und die Texte können feststehend oder als Stegreifreim ad hoc gedichtet oder variiert werden. Die wenigen bislang bekannten Melodiebelege von "Drunne kummt ä Russl gfahre" (Edition B) sind daher auch nur einzelne von vielen möglichen Weisen, die auf diesen Text gesungen werden. Das Genre der Scherzreime wird in mehreren Publikationen erwähnt, teils auch unter den Bezeichnungen "Neckverse", "Spottverse", "Gasselieder", "Trallerstückchen", "Tanz- oder Schelmeliedle", "klaane Stückelcher", "Schnörkel", "Tuschliedchen" oder "Dusch" (in wissenschaftlichen Publikationen findet sich mitunter auch der Begriff "Schnaderhüpfl" – dieser Terminus wurde aber vermutlich von außen an das Genre herangetragen und stammt nicht aus der Sprachpraxis russlanddeutscher Siedler). Neuerdings wird immer häufiger der russische Begriff Chastushki (частушки) als Genrebezeichnung verwendet. Das liegt zum einen daran, dass die russischen Chastushki viele Parallelen zu den deutschsprachigen Scherzreimen aufweisen (beide Genres haben sich wechselseitig beeinflusst. Aufgrund der schlechten Quellenlage sind jedoch kaum präzise Aussagen zu diesem kulturellen Austauschprozess möglich). Zum Anderen ist die Sprache der Russlanddeutschen in Russland heute primär russisch. Das hat zur Folge, dass deutsche Termini zunehmend durch sinnverwandte russische Wörter ersetzt werden.

V. Von den 1930er Jahren an gibt es bei diesem Lied eine Beleglücke von mehreren Jahrzehnten. Ob dies mit einem Bruch in der Rezeption gleichzusetzen ist, lässt sich aufgrund der spärlichen Quellenlage nicht sagen. Möglicherweise wurde "Drunne kummt ä Russl gfahre" zwar weiter tradiert, aber nicht dokumentiert. Seit den 1990er Jahren finden sich wieder vereinzelte Belege von Varianten dieses Vierzeilers. Es singen ihn sowohl russlanddeutsche Siedler in Südrussland, wie auch russlanddeutsche Einwanderer aus der Kaukasusregion in der Bundesrepublik Deutschland – und, adaptiert von einer in Deutschland produzierten CD mit russlanddeutschen Liedern, nun auch Nachfahren russlanddeutscher Emigranten in Argentinien. Eine solche Aneignung ist charakteristisch für gegenwärtige Rezeptions- und Tradierungsprozesse russlanddeutschen Liedguts. Durch Migration einerseits und die Verbreitungsmöglichkeiten neuer Medien andererseits wird Tradierung sowohl komplexer als auch ortsunabhängiger. So werden Text-Varianten von "Drunne kummt ä Russl gfahre" heute z.B. auch in Internetforen ausgetauscht und der internationale Handel mit Musikalien sowie internetbasierte Videoplattformen wie "youtube" ermöglichen einen weltweit vernetzten Austausch von Stücken und Repertoires.

INGRID BERTLEFF
(April 2009)



Quellenübersicht

  • Ungedruckte Quellen: wenige Belege aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: selten (in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen)
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: einzelne Schallaufnahmen
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Drunne kummt ä Russl gfahre mit ä Rukawitza (2009). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/drunne_kummt_ae_russl_gfahre_mit_ae_rukawitza/>.


© Deutsches Volksliedarchiv
last modified 12.09.2012 11:38
 

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