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Die Mühle, die dreht ihre Flügel


Dem Liebeslied "Die Mühle sie dreht ihre Flügel" liegt ein Gedicht von Adelbert von Chamisso zugrunde, das dieser 1826 erstmals veröffentlichte. Ab den 1830er Jahren fand es auch in Gebrauchsliederbüchern Verbreitung, wobei ihm als Melodie eine durch die Ballade von den Königskindern bereits bekannte Weise unterlegt wurde. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand Chamissos Text mit der Vertonung von Johannes Brahms im Bereich der Kunstmusik stärkere Resonanz. Daneben hielt auch seine Tradierung im populären Bereich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts an.

I. Der Dichter und Naturwissenschaftler Adelbert von Chamisso (1781–1838) war im 19. Jahrhundert als Lyriker einer der populärsten Autoren, dessen Gedichte zahlreich vertont wurden. In den Jahren 1815–1818 hatte er eine Weltreise unternommen, ab 1819 lebte er wieder in Berlin. Die damals – neben seinen botanischen Studien – entstandenen Gedichte schrieb Chamisso zunächst vornehmlich für den privaten Gebrauch. Zu den wenigen in jenen Jahren veröffentlichten Texten zählen die beiden 1822 verfassten "Windmüllerlieder", die der Stuttgarter Literaturkritiker Wolfgang Menzel 1826 in seinem Almanach "Moosrosen" publizierte. Sie bestehen aus den Teilen "Die Müllerin" (Edition A) sowie "Der Müllerin Nachbar", wobei beide Gedichte mit dem Eingangsvers "Die Mühle, die dreht ihre Flügel" beginnen. Wenig später übernahm Chamisso die beiden "Windmüllerlieder" in den Lieder- und Balladen-Anhang zur zweiten Auflage seines "Peter Schlemihl" (Nürnberg 1827). Mit dem damit einsetzenden Publikumserfolg Chamissos als Dichter waren "Die Müllerin" und ihr "Nachbar" in den Folgejahren auch in den zahlreichen Auflagen seiner gesammelten "Gedichte" (Leipzig 1831) vertreten: 1886 erschien davon bereits die 23. Auflage.

II. In seinem Gedicht "Die Müllerin" griff Chamisso ein bei den Romantikern beliebtes Motiv auf und entwarf dazu ein lyrisches Stimmungsbild, das in schlichtem, liedhaftem Ton die Lage einer vom Geliebten verlassenen Frau evoziert. Mit naturverbundenen Metaphern skizziert Chamisso die Befindlichkeit der "Müllerin", die sich in ihrer Liebe betrogen fühlt und ihren Kummer buchstäblich in den Wind spricht. Ihre Trauer gilt einem Abwesenden, über den das Gedicht jedoch weiter nichts mitteilt. Nur der Wind, der beständig wie das Rad der Zeit die Flügel der Mühle dreht, sei ihr treu geblieben, doch auch er finde den Verschwundenen nicht. Erst das zweite "Windmüllerlied", das die Sicht des Nachbars formuliert, gibt einen Hinweis zum Hintergrund dieser angedeuteten Liebesgeschichte: "Der Müller ist gestorben" (s. Edition D). Dieses zweite Gedicht über "Der Müllerin Nachbar", welcher seinerseits in die Müllerin verliebt und auf "den Flegel von Knecht" eifersüchtig ist, bildet inhaltlich wie sprachlich eine ironische Brechung der vorangegangen, von sentimentalen Zügen und naturhafter Idylle geprägten Verse der "Müllerin".

III. Schon kurze Zeit nachdem die erste Ausgabe von Chamissos gesammelten Gedichten erschienen war, fand sein "Müllerin"-Gedicht Aufnahme in das "Liederbuch für deutsche Künstler" (Berlin 1833), wobei dem Text eine bereits bekannte Melodie unterlegt wurde (Edition B). Diese Weise war eine der verschiedenen Melodien, die damals zur Ballade "Es waren zwei Königskinder" kursierten, und mit ihrer Verwendung erfuhren Chamissos Verse eine klare intertextuelle Kommentierung und Interpretation. In der Folge ist diese Melodie auch in weiteren repräsentativen Sammlungen dem Lied "Die Mühle die dreht ihre Flügel" zugewiesen worden; etwa in Friedrich Karl Erlachs "Die Volkslieder der Deutschen" (Mannheim 1836) und Carl Hases "Liederbuch des deutschen Volkes" (Leipzig 1843).

IV. Parallel dazu erschienen ab 1833 eine ganze Reihe von Vertonungen des Gedichtes. Chamisso gehörte seinerzeit zum Kreis der besonders häufig vertonten Dichter (Summerville 2004). Doch diese Stücke haben nur punktuell Eingang in Gebrauchsliederbücher gefunden, wie 1865 die Komposition des Pforzheimer Chordirigenten Theodor Mohr (Edition C). Mit der 1866 erstmals erschienenen Vertonung von Johannes Brahms (op. 44, Nr. 5) etablierte sich das Lied zunehmend im kunstmusikalischen Kontext. Brahms hatte Chamissos Gedicht schon 1853 als Lied für Sopran mit Klavier vertont, dieses Stück jedoch nur in privatem Rahmen weitergegeben (Draheim 1983). In den Jahren 1859/60 komponierte er den Text erneut, nunmehr für seinen Hamburger Frauenchor als vierstimmigen Satz, und nahm diesen in seine "Zwölf Lieder und Romanzen", op. 44, auf. Eine spätere Fassung dieses Satzes für gemischten Chor hat er verworfen; sie blieb nur deshalb erhalten, weil Brahms' Hauswirtin sie wieder aus dem Papierkorb zog. Ab den 1870er Jahren sind noch etliche weitere Vertonungen des Gedichtes "Die Müllerin" seitens anderer Komponisten auf dem Musikalienmarkt erschienen, darunter 1883 auch Edward Griegs op. 2 ("Vier Lieder"), Nr. 1. Doch einzig die Komposition von Brahms fand längerfristige Resonanz. Parallel dazu wurde auch Chamissos korrespondierendes Gedicht "Der Müllerin Nachbar" gelegentlich in Töne gesetzt, etwa 1839 von Johanna Kinkel (Sechs Lieder, op. 10, Nr. 6). In Gebrauchsliederbüchern findet sich ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert manchmal eine Vertonung dieses Textes durch den Burschenschaftler Franz Kampers (Edition D).

V. Trotz der vielen verschiedenen Vertonungen blieb Chamissos Gedicht "Die Müllerin" auch mit der "Königskinder"-Melodie noch über Jahrzehnte hinweg im Gedächtnis, wie eine 1910 veröffentlichte Aufzeichnung aus Ostpreußen verdeutlicht. Sie zeigt zudem, wie Chamissos Text im Zuge seiner populären Tradierung verändert wurde (Edition E). Auch bei der Melodieverwendung setzte in der Zeit der Jahrhundertwende eine Verschiebung ein: es wurde nunmehr weniger die Moll-Melodie der "Königskinder"-Ballade (s. Edition B) verwendet, sondern zunehmend die bekannte Dur-Melodie mit dem charakteristischen Sextsprung zu Beginn (Edition F). In dieser Melodieverschiebung spiegeln sich die Veränderungen im Gebrauch der Ballade "Es waren zwei Königskinder": Denn deren Melodien-Pluralität wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend auf eine Version reduziert (s. Liedkommentar "Königskinder", Abschnitt VII und IX). Dass dieser Veränderungsprozess sich wiederum auf die Geschichte des Liedes "Die Mühle die dreht ihre Flügel" dergestalt auswirkte, dass sich auch deren Melodie veränderte, ist ein recht bemerkenswertes Beispiel für rezeptionsgeschichtliche Wechselwirkungen zwischen Popularliedern.

VI. Im 20. Jahrhundert blieb die populäre Liedversion vereinzelt noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung (s. Anmerkung zu Edition E). Insgesamt dominierte aber nun die kunstmusikalische Rezeption mit der Fassung von Johannes Brahms. Seine Vertonung erschien Anfang der 1930er Jahre auch in den Liedblättern des Deutschen Sängerbundes (Johannes Brahms: Zwölf Lieder und Romanzen, op. 44. Liederblätter des DSB, Blatt 31. Berlin: Deutscher Sängerbund, ca. 1933). Und auch auf Tonträgern sind in erster Linie Aufnahmen der Brahms'schen Komposition zu finden.

ECKHARD JOHN
(Juli 2013)



Editionen und Referenzwerke
  • Brahms Werkverzeichnis 1984, S. 160–167 (op. 44).
  • Joachim Draheim (Hrsg.): Johannes Brahms – Die Müllerin. Liedfragment für Sopran und Klavier. Erstdruck. Wiesbaden 1983.
  • Johannes Brahms: Sämtliche Werke. Band XXI. Mehrstimmige Gesänge ohne Begleitung. Leipzig 1926, S. 170f. (op. 44, Nr. 5).

Weiterführende Literatur
  • Suzanne Summerville: Chamisso als Liederdichter [Adelbert von Chamissos Lyrik und die Musik]. In: Mit den Augen des Fremden. Adelbert von Chamisso – Dichter, Naturwissenschaftler, Weltreisender. Berlin 2004, S. 195–208.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: selten in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Eckhard John: Die Mühle, die dreht ihre Flügel (2013). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/die_muehle_die_dreht_ihre_fluegel/>.



last modified 31.12.2013 05:39
 

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