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All mein Gedanken, die ich hab


"All mein Gedanken, die ich hab" ist ein Minnelied unbekannter Autorschaft, das aus dem "Lochamer Liederbuch" von 1460 überliefert ist. Die im frühen 19. Jahrhundert wiederentdeckte Liederhandschrift wurde 1867 erstmals veröffentlicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die Jugendbewegung das Lied "All mein Gedanken, die ich hab" auf, wodurch eine breite Rezeption einsetzte, die bis heute ungebrochen ist.

I. Bei "All mein Gedanken, die ich hab" handelt es sich um ein spätmittelalterliches Lied. Überliefert ist es nur durch eine einzige zeitgenössische Quelle, das so genannte Lochamer (bzw. Locheimer) Liederbuch. Seine heutige Bezeichnung trägt dieses handschriftliche Liederbuch aus dem Jahr 1460 aufgrund eines unmittelbar unter dem Lied "All mein gedencken dy ich hab" stehenden Besitzervermerks ("Wolflein von Lochamer ist das gesenngk puch"). Der bzw. die Urheber von Text und Melodie des Liedes sind unbekannt. Das private Liederbuch blieb 350 Jahre unentdeckt, bis der Nürnberger Universalgelehrte Christoph Gottlieb von Murr "diese Seltenheit" 1811 schließlich antiquarisch erwarb. Eine erste Edition des Liederbuchs und damit des Liedes "All mein gedencken dy ich hab" erschien 1867 im 2. Band der "Jahrbücher für musikalische Wissenschaft" (Edition A).

II. Der Text von "All mein gedencken dy ich hab" entspricht der Lyrik des Minnesangs, weshalb es in der späteren Rezeption auch als Minnelied bezeichnet wird. Ein Mann versichert einer Frau angesichts seines bevorstehenden Abschieds seine Liebe. Das Lied ist wie ein Dialog gestaltet, in welchem zunächst der Mann spricht (Str. 1–4) und anschließend (Str. 5) die Geliebte antwortet. Die Worte "du pist mein vnd ich pin dein" in dieser letzten Strophe sind eine in der hochmittelalterlichen Liebeslyrik gängige Wendung. Auch wenn der Text als "formelhaft und höfischer Herkunft" charakterisiert wird (Szeskus 2010), lässt sich dennoch ein inniger Ausdruck erkennen. Rezeptionsgeschichtlich bemerkenswert ist, dass das Lied nach seiner Wiederentdeckung zunächst eher abschätzig beurteilt wurde (die Dichtung enthalte "leere Phrasen der hohlen, kranken, dahinsterbenden Ritter- und Minnepoesie" meinte Franz Magnus Böhme in seiner 1877 erschienenen Sammlung "Altdeutsches Liederbuch"), das 20. Jahrhundert "All mein Gedanken, die ich hab" hingegen als "eines der schönsten" traditionellen Liebeslieder empfand (so H. Rölleke in "Das große Buch der Volkslieder", 1993).

III. Das Lochamer Liederbuch ging in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch diverse Hände. Murr überlies es unmittelbar nach dem Kauf dem Musikforscher Johann Nikolaus Forkel, aus dessen Nachlass es 1819 der Volksliedsammler August Kretzschmer erwarb ("Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen", 1839). Ende der 1820er Jahre ließ sich der Münchner Altgermanist Hans Ferdinand Maßmann ein Faksimile des Lochamer Liederbuchs anfertigen, das er Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) weiterreichte, die nahezu alle enthaltenen Lieder für Singstimme und Klavierbegleitung – teils sehr frei – bearbeitete, darunter auch "All mein Gedanken die ich hab" (Edition B). Die Lieder, die sie 1836 ihrem Schwager, dem Freiherrn Joseph von Lassberg, widmete, waren für den familiären Kreis bestimmt und hatten daher keine Breitenwirkung. Die entsprechenden Bearbeitungen sind erst 1954 in einer Ausgabe mit Kompositionen Annette von Droste-Hülshoffs erschienen.

IV. Nach der Erstedition des Lochamer Liederbuchs 1867 wurde das Lied "All mein Gedanken, die ich hab" bis Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt nur wenige Male veröffentlicht. Franz Magnus Böhme nahm es sowohl in sein "Altdeutsches Liederbuch" (1877; hier in der originalen Textfassung) wie auch in den "Deutschen Liederhort" auf (Erk/Böhme 1894; hier in hochdeutscher Übertragung). Böhme glättete in letztgenannter Sammlung zudem den rhythmischen Verlauf der ursprünglichen Liedmelodie durch Verlängerung von zwei Viertel- zu zwei halben Noten im ersten Teil, wodurch sie sangbarer wurde. Diese Melodiefassung ist die heute allgemein bekannte. Ein früher Beleg der Aufnahme von "All mein Gedanken, die ich hab" in den Kanon der populärsten deutschen Volkslieder ist Max Friedlaenders Sammlung "Hundert deutsche Volkslieder" (1886). Johannes Brahms nahm sich des Liedes für seine Volksliedbearbeitungen an (1894).

V. Vom Beginn des 20. Jahrhunderts an wird "All mein Gedanken, die ich hab" parallel in zwei Richtungen rezipiert. Zum einen findet es Verwendung als Chorlied, ausgehend von der Veröffentlichung im 1906 auf Veranlassung Kaiser Wilhelms II. herausgegebenen "Volksliederbuch für Männerchor" (Edition C). Von da an erscheint das Lied in verschiedenen Chorbearbeitungen bis in die heutige Zeit (z. B. "Chor aktuell: Volkslieder für Europa", 1987). Zum anderen wurde "All mein Gedanken, die ich hab" von der Jugend- und Wandervogelbewegung aufgenommen (Edition D). Dadurch wurde das Lied allgemein bekannt. Bis auf die Jahre des Zweiten Weltkrieges ist es häufig in Gebrauchsliederbüchern vertreten, oftmals in Jugendliederbüchern, jedoch in der Regel nur mit den ersten zwei oder drei Strophen. Die bis heute anhaltende Popularität von "All mein Gedanken, die ich hab" lässt sich auch an der großen Zahl von Tonträgern ablesen, auf denen das Lied verfügbar ist (z. B. auf den CDs "All meine Gedanken, die ich hab: Deutsche Volkslieder aus sechs Jahrhunderten" [2005] und "All mein Gedanken: Die schönsten Volkslieder" [2008]). Im Fall von Ingeborg Spriewalds Anthologie "All mein Gedanken, die ich hab. Deutsche Lieder des 15. und 16. Jahrhunderts" (1982) dient das Liedincipit im Titel als Repräsentant der Lyrik der gesamten Epoche.

FRAUKE SCHMITZ-GROPENGIESSER
(Februar 2012)



Editionen und Referenzwerke
  • Walter Salmen und Christoph Petzsch: Das Lochamer Liederbuch. Wiesbaden 1972 (Denkmäler der Tonkunst in Bayern, Neue Folge, Sonderband 2), S. 108f. (Nr. 39).
  • Erk/Böhme 1894, Bd. 3, S. 456f. (Nr. 1646).
  • Böhme, Altdeutsches Liederbuch 1877, S. 225 (Nr. 127).
  • Friedrich Wilhelm Arnold und Heinrich Bellermann: Das Locheimer Liederbuch nebst der Ars Organisandi von Conrad Paumann. In: Jahrbücher für musikalische Wissenschaft, Bd. 2. Hrsg. von Friedrich Chrysander. Leipzig 1867, S. 1–234 (Edition von "All mein gedencken dy ich hab" S. 145–147; zu Entdeckung, Besitzänderungen und Rezeption des Liederbuchs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts S. 1–6).

Weiterführende Literatur
  • Reinhard Szeskus: Das Deutsche Volkslied. Geschichte, Hintergründe, Wirkung. Wilhelmshaven 2010 (Zitat S. 235).
  • Walter Salmen: "Alte Minnelieder und Volksgesänge" im Werk der Annette von Droste-Hülshoff. In: Leitmotive. Kulturgeschichtliche Studien zur Traditionsbildung. Festschrift für Dietz-Rüdiger Moser zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Walter Salmen und Herbert Zeman. Kallmünz 1999, S. 435–446.
  • Christoph Petzsch: Das Lochamer Liederbuch. Studien, München 1967 (zu "All mein Gedanken, die ich hab" vgl. S. 22f., 25f., 42f., 161 und 176).
  • Siegfried Bimberg: Untersuchungen über das tonale Hören als eine Grundlage der Rezeption musikalischer Kunstwerke. In: Traditionen und Aufgaben der Hallischen Musikwissenschaft. Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Sonderband 1963, S. 135–147 (zu "All mein Gedanken, die ich hab" vgl. S. 143f.).
  • Karl Gustav Fellerer: Das Lochamer Liederbuch in der Bearbeitung der Annette von Droste-Hülshoff. In: Die Musikforschung 5 (1952), S. 200–205.


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: kaum Aufzeichnungen aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: überaus häufig in Gebrauchsliederbüchern
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: häufig auf Tonträger
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Frauke Schmitz-Gropengiesser: All mein Gedanken, die ich hab (2012). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/all_mein_gedanken_die_ich_hab/>.


© Deutsches Volksliedarchiv

last modified 16.10.2012 10:02
 

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