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Ach, wie traurig kam die Botschaft


"Ach, wie traurig kam die Botschaft" ist ein politisches Lied russlanddeutscher Siedler. Es entstand vor dem Hintergrund der russischen Februar- und Oktoberrevolution 1917 und berichtet von der Erleichterung über die Aussetzung der sogenannten Liquidationsgesetze und das Ende der kriegsbedingten Deportationen, von der Freude über den politischen Umbruch sowie der Hoffnung auf ein besseres Leben im Zuge der bolschewistischen Machtergreifung. Spuren des Liedes finden sich bis ca. 1930 sowohl in der Wolgaregion wie auch in der Ukraine.

I. "Ach, wie traurig kam die Botschaft" wurde wahrscheinlich zwischen April 1917 und Juli 1918 von einem anonym gebliebenen russlanddeutschen Autor verfasst. Konkretes zur Entstehung des Liedes ist bislang nicht bekannt. Der früheste greifbare Beleg ist eine Textaufzeichnung aus dem Jahr 1927, die der Germanist Alfred Ström während einer Sammlungsreise in der russlanddeutschen Siedlung Kolonie Konstantinowka (Kreis Artjemosk) angefertigt hat (Edition A). Der Sammlungsort liegt im Südosten der Ukraine, in einem der damals von der Kriegsgesetzgebung akut betroffenen Siedlungsgebiete. Der Text soll auf die Melodie des populären russischen Liedes "Stenka Rasin" gesungen worden sein, dessen Weise einer Vielzahl russischer Lieder unterlegt und auch von russlanddeutschen Siedlern verschiedentlich als Melodie für deutschsprachige Liedtexte gewählt wurde. Die einzige weitere Quelle stammt aus der Sammlung des Forscherpaares Georg und Emma Dinges, die dasselbe Lied rund ein Jahr später in der Wolgaregion aufgezeichnet haben (Edition B).

II. Dieses politische Lied ist eine spezifisch russlanddeutsche Reaktion auf den politischen Umbruch, der durch den Ersten Weltkrieg und die Februarrevolution 1917 ausgelöst wurde. Unter dem letzten der russischen Zaren, Nikolaus II., war der bürgerlichen Revolution eine krisenhafte Verschlechterung der Lebensumstände der deutschstämmigen Bevölkerungsgruppe Russlands vorangegangen. Die sogenannte Kriegsgesetzgebung des Zaren sah unter anderem die faktische Enteignung und massenhafte Umsiedlung der Russlanddeutschen aus den Grenzregionen Russlands vor. Von der Deportation betroffen waren zunächst die Wolhyniendeutschen (s. der Kommentar zu "Aus Wolhynien sind gezogen"). Russlanddeutschen in anderen Siedlungsgebieten standen diese Maßnahmen noch bevor. Entsprechend erleichtert und euphorisch war daher die Reaktion russlanddeutscher Siedler auf den politischen Umbruch im Februar und die Aussetzung der Kriegsgesetzgebung im März 1917. Im Lied wird auf eben diese Umbruchsituation Bezug genommen: auf Weisung Nikolaus II. sollten die Russlanddeutschen ihre angestammten Siedlungsgebiete verlassen und ihren Besitz zurücklassen. Kosaken begannen damit, diesen Erlass umzusetzen und die Menschen aus ihren Siedlungen zu vertreiben. Thematisiert wird die dadurch ausgelöste Angst ebenso wie das Gefühl, mit diesen Maßnahmen sukzessive aus der russischen Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Im Lied wendet sich mit dem Auftritt Vladimir Ilic Uljanovs (Lenin) auf der politischen Bühne das Blatt endlich zum Guten. Der im April 1917 aus dem Exil zurückgekehrte Lenin wird als Retter gefeiert: in der fünften Strophe wird ihm – ungeachtet der historischen Fakten – das Verdienst zugeschrieben, Nikolaus' Weisungen aufgehoben zu haben. Die Februar- und Oktoberrevolution werden eher implizit erwähnt: der Kaiser hat seine Stellung verloren, politisch und gesellschaftlich hat eine Umwälzung stattgefunden ("das Alte gilt nicht mehr"). Die Hinrichtung der gesamten Zarenfamilie im Sommer 1918 kommt im Liedtext schon nicht mehr vor. Die letzte Strophe berichtet ausschließlich von der Inhaftierung des Zaren und der Ermordung politischer Führer ("Alle, die am höchsten waren sind auf einmal hingericht, und der Kaiser Nikolai darf nicht mehr ans Tageslicht"). Die Geschehnisse zwischen Februar- und Oktoberrevolution werden von dem unbekannten Verfasser dieses Liedes im Wesentlichen auf die Aussage reduziert, Lenin sei gekommen, um das Unglück der Kriegsgesetzgebung von den deutschstämmigen Siedlern abzuwenden. Als entscheidend wahrgenommen wurde aus russlanddeutscher Sicht also das mit dem revolutionären Geschehen einhergehende Ende der Repressionen, sowie die Tatsache, dass die alten Herrscher, die diese Zumutungen zu verantworten hatten, entmachtet waren.

III. Über die Tradierung von "Ach, wie traurig kam die Botschaft" ist bislang lediglich bekannt, dass es sowohl in der Wolgaregion wie auch in der Ukraine noch um 1930 erinnert wurde. Sein Inhalt deutet darauf hin, dass es vermutlich von russlanddeutschen Sympathisanten der bolschewistischen Bewegung gesungen wurde ("Doch der Lenin hat gesorget für uns arme deutsche Leut"). Inhaltlich wurde es wohl schon bald vom Lauf der Geschichte eingeholt. Der in seinem Text anklingende Optimismus war wohl spätestens mit den unter Stalin einsetzenden Repressionen verflogen. Seine Rezeption brach wahrscheinlich mit den in den 1930er Jahren einsetzenden Deportationen ab.

INGRID BERTLEFF
(Mai 2010)



Weiterführende Literatur
  • Detlef Brandes: Liquidationsgesetze, Revolution und Bürgerkrieg. In: Gerd Stricker (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Berlin: Siedler 1997, S. 131–137.
  • Ingeborg Fleischhauer: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1986 (s. dort S. 507–558 zu den Umsiedlungen aus russischen Grenzregionen, den sog. Liquidationsgesetzen sowie der politischen Aufbruchsstimmung zwischen Februar- und Oktoberrevolution).


Quellenübersicht
  • Ungedruckte Quellen: Einzelbeleg aus mündlicher Überlieferung
  • Gedruckte Quellen: ein fragmentarischer Beleg aus mündlicher Überlieferung
  • Bild-Quellen: —
  • Tondokumente: —
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Hinsichtlich der Tonträger wurden auch die Bestände des Phonogrammarchivs St. Petersburg (IRLI) und des Deutschen Musikarchivs (Leipzig) miteinbezogen.



Zitiervorschlag
Ingrid Bertleff: Ach, wie traurig kam die Botschaft (2010). In: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/ach_wie_traurig_kam_die_botschaft/>.


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last modified 12.09.2012 10:47
 

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